Buchauszüge

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Mühleberg: Risse im Kernmantel

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Einmal, erinnert sich Rosmarie Ramseier, habe es tagelang fürchterlich geregnet, das Feld sei ganz nass gewesen. Trotzdem fuhren sie mit einer Maschine auf das Feld, das Gefährt blieb stecken. Also holten Ramseiers einen Traktor, um es herauszuziehen. Es war eine Riesenplackerei. Und plötzlich stand die Polizei da: die Berner «Sondereinheit Enzian» mit ihren Einsatzfahrzeugen und in voller Kampfausrüstung. Da seien sie schon etwas überrascht gewesen, erzählt Rosmarie Ramseier und lacht: «Die Polizisten haben uns gesagt, der Sicherheitsdienst des AKWs habe sie alarmiert. Der fürchtete, auf unserem Feld werde ein Sabotageakt vorbereitet.» Letztlich hat das Ganze die Ramseiers ein wenig amüsiert, denn das wäre das Letzte, was sie möchten: dass im AKW drüben etwas passiert.

 

«Einmal», erzählt Walter Ramseier, «haben BKW-Leute ziemlich direkt gedroht, uns das Land nicht mehr zu verpachten.» – «Dann haben wir uns halt einfach wieder ein bisschen unauffälliger verhalten», sagt Rosmarie Ramseier. Noch können sie die 1,26 Hektaren nutzen, die BKW hat jedoch die Möglichkeit, den Pachtvertrag sehr kurzfristig zu kündigen.

 

Walter Ramseier erzählt auch vom Zivilschutzbunker im Dorf. Diesen unterirdischen Schutzraum müssten sie beziehen, wenn im AKW etwas passieren würde. Manchmal gebe es dort Dorfversammlungen, «ein schrecklicher Ort», sagt er, unvorstellbar, wie die 67 Menschen, die heute noch im Ort leben, da miteinander zurechtkommen sollten, wenn wirklich etwas Schlimmes passieren würde wie in Fukushima. «Und die gehen auch einfach davon aus, dass wir die Tiere allein lassen würden – das könnten wir doch nicht.»

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Susan Boos

 


Foto © Andrei Liankewitsch

 

Aus dem Interview mit dem Tschernobyl-

Liquidator Georgi Fjodorowitsch Lepin

 

Wie haben Sie Ihre Zeit in Tschernobyl in Erinnerung? 

 

Georgi Lepin: Das kann man nur so beschreiben: Als eine ganz schreckliche Zeit. Da waren Menschen, die ihr Leben riskierten. Und die meisten waren gegen ihren Willen dort.

 

Wie viele Liquidatoren waren eigentlich in Tschernobyl im Einsatz? Man liest sehr unterschiedliche Zahlen.

 

Die Führung der Sowjetunion sprach stets von 600 000 Menschen. Ich selber gehe von etwa einer Million aus.

 

Wie viele von diesen Leuten leiden heute unter den Folgen ihres damaligen Einsatzes?

 

Alle Liquidatoren leiden unter den Folgen. In unterschiedlichem Ausmass. Etwa 300 000 bis 400 000 Menschen wurden an den gefährlichsten Orten eingesetzt. Etwa 200 000 von ihnen leiden heute an Behinderungen. Etwa 100 000 sind gefallen.

 

Weshalb verwenden Sie das Wort «gefallen» und nicht «gestorben»?

 

Man stirbt, wenn der Tod, sagen wir es so, auf natürliche Art und Weise eintritt. Die Liquidatoren sind wegen der Strahlung ums Leben gekommen. Sie sind gefallen. Das ist ähnlich wie an der Front im Krieg. Wenn man im Krieg stirbt, spricht man auch von «gefallen». Und Tschernobyl ist eine ähnliche Situation.

 

Können Sie Beispiele der von Ihnen erwähnten gesundheitlichen Folgen nennen?

 

Es gibt viele Arten von Behinderungen. Radioaktive Verstrahlung schwächt die Immunität des Menschen und dann können alle möglichen Krankheiten entstehen. In den Jahren nach der Katastrophe haben Ärzte versucht, uns davon zu überzeugen, dass es als direkte Folge von Tschernobyl lediglich zwei Krankheiten gibt: die so genannte Strahlenkrankheit und den Strahlenbrand. Und es ist uns dann gelungen, sie zu überzeugen, dass fast alle Krankheiten der Liquidatoren eine Folge von Tschernobyl sind.

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Interview: Peter Jaeggi

 


 

Foto © Andrei Liankewitsch

 

Das Tschernobyl-Collier

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Auf dem Tisch neben ihr liegt eine kleine Blechdose. Immer wieder greift Natalia Manzurova hinein und nimmt eine Hormontablette heraus. Am Hals der zierlichen Radiobiologin aus Russland ist eine blasse, strichförmige Operationsnarbe zu sehen. «Tschernobyl-Collier nennen wir das bei uns», scherzt sie müde lächelnd und schluckt ihre Arznei.

 

Die Radiobiologin Natalia Manzurova war eine Liquidatorin. Sie gehörte zu den ersten, die 1986 nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl vor Ort eintrafen.

 

Im April 2010 erhielt sie die Diagnose Schilddrüsenkrebs. Danach, gesteht die Sechzigjährige, sei sie wochenlang hysterisch gewesen – obwohl sie immer mit der Erkrankung rechnen musste. «Aber wenn es dann wirklich soweit ist, will man es nicht wahrhaben.»

Umso weniger Verständnis hat sie dafür, dass die ukrainische Regierung das Unglücksgebiet für den Tourismus geöffnet hat. Eine Million Abenteuerurlauber erwartet der ukrainische Tourismusverband pro Jahr, um Devisen ins Land zu bringen. «Ich bin entrüstet. Einer der Besucher sagte: 'Ich war da drin und will da wieder hin.' Als ob man Schlitten oder Skifahren ginge»

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Anja Boromandi

 


 

Mit dem eigenen Blut bezahlt –

Erinnerungen an die Umsiedlung

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In einem Quartier mit heruntergekommenen Plattenbauten. Die Alteingesessenen nennen die tristen Wohnblocks «Tschernobyler Häuser». Der Staat hatte sie nach der Atomkatastrophe für die Umweltflüchtlinge gebaut, die aus ihren radioaktiv verseuchten Dörfern wegziehen mussten. 337 000 Menschen verliessen damals in Belarus auf staatliche Anordnung hin mehr oder weniger freiwillig ihre Häuser.

 

Einer dieser Umweltflüchtlinge ist Sofia Berschawskaja, geboren 1929. Sie kam nach der Tschernobyl-Katastrophe aus dem rund 300 Kilometer weit entfernten und verstrahlten Städtchen Tschetschersk hierher. Dort hatte sie mit ihrem Mann und ihren Kindern in einem schmucken Holzhaus gewohnt. Jetzt lebt sie hier in einem dieser Tschernobyler Wohnblocks in Minsk, zusammen mit ihrer stark geistig behinderten, 45 Jahre alten Tochter Alla. Sofia Berschawskaja erzählt:(...)

«Wir besassen ein gutes, ein sehr schönes Haus. Ein kleiner Palast war das! Ich arbeitete in einer Baufirma, deswegen wurde vieles möglich. Wir hatten auch eine Heizung. Das Fundament war weiss mit einem gelben Streifen rundum, das ganze übrige Haus war grün. Die Fensterläden waren aus Holz. Zudem gab es eine schöne, grosse Veranda. Ja, es war wirklich wie ein kleiner Palast. Ich vermisse dieses Haus noch immer und es zieht mich noch heute dorthin zurück. Ich habe mein Haus sehr, sehr geliebt. Und im Garten wuchsen Äpfel, Pflaumen, Erdbeeren, auch rote Johannesbeeren, es gab da einfach alles.

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Wir erhielten vom Staat für unser verlorenes Haus eine Kompensation. Ich weiss nicht mehr, wie viel es war. Ich brachte das Geld in Tschetschersk auf die Sparkasse. Als ich es später holen wollte, hatte die Inflation in der Zwischenzeit das ganze Guthaben vernichtet. So wurden letztlich gerade noch 337 Rubel ausbezahlt. Alles, was wir jahrelang zusammengespart hatten, war einfach verschwunden. Mein Mann und ich hatten für den Hausbau einen Kredit von 12 000 Rubel aufgenommen. Nach und nach konnten wir alles zurückzahlen. Um das möglich zu machen, spendeten wir auch Blut. Mit dem Geld, das wir dafür bekamen, stotterten wir den Kredit ab. Auch deswegen hänge ich so an diesem Haus. – Und dann war auf einmal alles weg ...»

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Aufgezeichnet von Peter Jaeggi

 

Foto © Andrei Liankewitsch

 

 

«Unlieb» – Ein Strahl auf der Erde

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Die Zone beginnt allmählich. Die ersten Anzeichen sind verlassene Häuser, verwilderte Grundstücke. Dann verstärkt sich das mulmige Gefühl, weil die Hochspannungsleitungen fehlen. Und schliesslich materialisieren sich die vagen Gefühle und zweideutigen Zeichen in einem schwarzgelben Dreieck: «Vorsicht: erhöhte Radioaktivität!« Wie auf ein Signal werden die Autofenster geschlossen. Egal, wie heiss es ist. Motorengeräusche wirken fremd in dieser Landschaft ohne Menschen und Maschinen.

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Ein Stück abseits der Strasse steht ein Haus. Seine windschiefe alte Tür kann sich ohne fremde Hilfe vermutlich nicht mehr besinnen, in welche Richtung sie geöffnet werden kann. Im Licht des Sonnenstrahls, der durch das löchrige Dach dringt, wirkt die Unordnung im verwüsteten Zimmer wie ein kunstvoll arrangiertes Stillleben. Im Sonnenlicht verwandelt der radioaktive Staub die Szenerie in Bilder eines längst vergessenen Lebens, Bilder wie hingeworfen in die Gegenwart aus einem alten Filmprojektor. Auf dem Fussboden liegt zwischen Scherben eine Puppe sowjetischer Produktion. Sie hat die Plastikarme hochgereckt, als riefe sie seit Jahren nach ihrer Mama.

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Der alte Mann trägt einen kleinen Korb, halbvoll mit saftigen, schwarzen, grau behauchten Beeren. Auf den Beeren liegt ein Dutzend kleine Pfifferlinge. Er sagt: «Die Radioaktivität hat sich hier fleckenweise verteilt. Als 1986 die radioaktiven Wolken von Tschernobyl in Richtung Moskau zogen, wurden sie wahrscheinlich mit Raketen beschossen, damit sie sich hier abregnen. Wo dieser Regen gefallen ist, liegt die Radioaktivität schon mal bei 40 Curie und höher. Und ein paar Hundert Meter weiter sind die Werte normal.»

 

Solche bedingt sauberen Stellen sind auf speziellen Karten markiert. Doch die Ortsansässigen schauen nicht auf diese Karten. Jeder richtet sich nach seinem eigenen Verstand. Der eine orientiert sich beim Sammeln von Pilzen und Beeren an den Verbotsschildern, der andere geht auf eigene Gefahr gerade in die gesperrten und deshalb unberührten Gebiete und fürchtet dabei weniger die Radioaktivität als vielmehr die drohenden Strafen für das Sammeln in der Sperrzone.

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Anna Kowalewski

 


Foto © Andrei Liankewitsch

 

 

Tschernobyl für immer

Kann man Aepfel aus Tschernobyl essen?

Kein Problem, wenn Sie das Kerngehäuse nachher sehr tief vergraben ...

(Ukrainischer Witz von 1986)

 

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In Sachen Kernenergie gibt es nämlich keine Objektivität. Wer behauptet, er argumentiere neutral, der lügt. So kommen Studien zu Tschernobyl beispielsweise zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen, je nachdem ob sie von der Internationalen Atomenergie-Agentur (IAEO) oder von Greenpeace finanziert sind. Gemäss IAEO soll Tschernobyl unmittelbar nur 24 Todesopfer gefordert haben, in der Folge dann weitere 4000 Opfer, die an Schilddrüsenkrebs starben. Dabei wird argumentiert, man könne nicht mit Sicherheit feststellen, ob übrige Krebserkrankungen mit der Radioaktivität zusammenhängen. Greenpeace dagegen spricht von Millionen von Opfern. Das führt uns deutlich vor Augen: Geht man das Thema Atomenergie an, muss man zugeben, dass man eine Welt des Unsichtbaren, der Wahrscheinlichkeiten und Unsicherheiten betritt. Eine letzte Wahrheit wird es nie geben, wie uns das der österreichische Physiker Heisenberg schon 1927 mit seiner Theorie der Unschärferelation zeigte.

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Ich machte mich auf den Weg und wurde zum Nomaden, so wie alle die von Subunternehmen beschäftigten AKW-Arbeiter, die ich in Frankreich auf ihren Campingplätzen im Schatten der Kühltürme traf. Ich verbarg vor ihnen nicht, dass mich Angst antrieb und zu ihnen führte. Von Anfang an gab ich ihnen zu verstehen, dass es nicht um meine persönliche Meinung über die Kernergie gehen sollte. Um objektiver untersuchen zu können, wie diese Industrie funktioniert, stellte ich alle Argumente pro und kontra Kernenergie hintan. Weiter war es mir ein Anliegen, diesen vergessenen Arbeitern ein Gesicht geben.

 

Viele haben mir Auskunft gegeben. Einige verweigerten aber die Mitarbeit an meinem Film aus Angst, ihre Stelle zu verlieren, wenn sie Details über das Funktionieren dieser Industrie preisgeben würden, die eine Kultur der Geheimhaltung pflegt. Doch einige redeten; sie hatten mehr Angst vor einem Unfall als vor sonst etwas. Wenn man bedenkt, dass sie fast vierzig Jahre lang geschwiegen haben, ist die blosse Tatsache, dass sie sich der Aussenwelt mitteilen, schon ein Alarmsignal. Diesen mutigen Männern und Frauen war es ein grosses Bedürfnis, von jemandem angehört zu werden, der sich nicht ein Urteil über ihre Tätigkeit anmassen, sondern in erster Linie eine Verbindung zwischen der Innenwelt eines AKW und der Aussenwelt herstellen wollte.

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Alain de Halleux


Foto © Andrei Liankewitsch

 

 

Radioaktivität macht auch die Seele krank

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... Menschen, die noch im Bauch der Mutter waren, als das Unglück von Tschernobyl geschah, zeigen später häufiger Verhaltensstörungen als Vergleichsgruppen in anderen Gebieten. Diese Kinder fielen auch auf durch einen niedrigeren IQ als Gleichaltrige anderswo. Wer in der kontaminierten Zone lebt, leidet vermehrt an psychischen Problemen, an Schlaflosigkeit und Müdigkeitserscheinungen. Unter den Liquidatoren, die 1986 beim Unglücksreaktor aufräumen mussten, finden sich häufiger Menschen mit posttraumatischen Störungen als in anderen Gruppen – und mehr depressive Menschen, die sich mit Suizidgedanken quälen.

Einer der Gründe, die nach Katastrophen psychisch krank machen können, nennt Ulrich Schnyder, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsspital Zürich: «Aus meiner Sicht ist es die Erfahrung des völligen Kontrollverlustes. Es passiert einfach, und ich kann nichts dagegen tun.» Besonders stark trifft dies auf viele Naturkatastrophen zu. Hier hat der Mensch den Gesetzen der Natur zu folgen. Ob er will oder nicht. Das ist eine Erklärung dafür, weshalb viele religiöse Menschen in apokalyptischen Ereignissen eine verdiente Strafe Gottes sehen.

Anders und deshalb häufig mit schlimmeren Langzeitfolgen verhält es sich bei technischen Katastrophen, wie Tschernobyl oder Fukushima. Bei einer vom Menschen verursachten Katastrophe schwingt stets der Verdacht mit, dass sie vermeidbar gewesen wäre. Behörden und Firmenverantwortliche haben geschlampt, oder vermeintlich sichere Technologien entpuppen sich plötzlich als lebensbedrohend.
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Peter Jaeggi

 

Foto © Andrei Liankewitsch

 

 

Swetlana Alexijewitsch

«Wir müssen Tschernobyl begreifen als etwas,

was uns in der Zukunft bedroht»

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Kann man nach der Katastrophe in Fukushima über Tschernobyl überhaupt noch etwas Neues sagen?

Die Katastrophe von Tschernobyl wurde oft abgetan als ein Ergebnis der typisch sowjetischen Schlamperei. Fukushima zeigt aber, dass ein Reaktorunfall jederzeit wieder passieren kann, selbst in einem so hochentwickelten Land wie Japan. Wissenschaftler hatten  behauptet  dass  solche Katastrophen einmal alle Hunderttausend Jahre passieren könnten. Und jetzt haben wir in 33 Jahren zwei solche Katastrophen erlebt. Es wird Zeit, den Hochmut abzulegen, der noch aus der Aufklärung stammt. Nämlich die Position der Überlegenheit gegenüber der Natur. Die Atomtechnologie ist ebenso unbeherrschbar wie die Natur.

Tschernobyl wird im Grunde reduziert auf medizinische und politische Fragen. Die sind ausreichend behandelt worden. Was jedoch meiner Ansicht nach fehlt, ist die philosophische Dimension. Wir müssen Tschernobyl begreifen als etwas, das uns in der Zukunft bedroht. Niemand ist bereit, über diesen Zukunftsaspekt nachzudenken, der über ideologische Fragen wie Sozialismus und Kapitalismus hinausgeht. Diese ideologische Frage hat sich überlebt und erledigt. Diese grossen Ideen gibt es eigentlich nicht mehr. Man müsste nun den Schritt darüber hinaus machen, nämlich über unsere Zukunft sprechen. Tschernobyl ist eine Herausforderung, die uns zeigt: Das ist unsere Zukunft, eine Zukunft, die wir selber produzieren. Und wir sind ihr überhaupt nicht gewachsen. Wir denken nicht darüber nach. Wir sind dem technologischen Fortschritt, den wir sehr stark vorantreiben, intellektuell und moralisch nicht gewachsen. Wir produzieren da etwas, was unseren Händen entgleitet.

Sie haben einmal gesagt, dass Tschernobyl Begriffe wie «nah» und «fern» aufgelöst habe.

Die radioaktive Wolke von Tschernobyl stand eben über ganz Europa. Zum einen hat Tschernobyl gezeigt, dass die Welt der Menschen sehr klein ist, dass wir ein sehr kleines, winziges Bio-Objekt sind. Wir sehen da ganz genau, dass der Mensch Dinge entfesselt, die er nicht beherrscht und vor denen er sich nachher auch nicht schützen kann. Als ich das erste Mal dorthin kam, habe ich Hunderte von Soldaten gesehen, schwer bewaffnet mit Maschinenpistolen. Es wurden Flugzeuge aus Afghanistan zurückgeholt mit schweren Maschinengewehren an Bord. Völlig unangemessene Mittel zur Bekämpfung einer solchen Katastrophe. Gegen wen sollten diese Waffen gerichtet werden?

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Interview Peter Jaeggi

 

Foto © Andrei Liankewitsch

 

Die Apokalypse, die es nicht gegeben hat

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Zu viel Trauer hat sich in unserer Welt angesammelt, als dass eine von ihnen alle anderen überdecken könnte. Selbst wenn es eine sehr grosse Trauer ist.

 

Derart pathetische Töne würde ich wohl in einem Essay zum düsteren Tschernobyl-Jahrestag anschlagen, würde mich bei dieser Tragödie nicht ein Problem beunruhigen, das diese quasi in Frage stellt. Nein, die Tragödie wird natürlich nicht negiert. Menschen sind gestorben, Felder und Wälder sind für den Menschen lebensgefährlich geworden, eine unsichtbare Bedrohung durchdringt das gesamte Geflecht unserer Existenz, ja, sogar viele Ideen sind mit einer Art Krebsgeschwür überwuchert. Dadurch fühlten wir uns eine Zeitlang nach der Katastrophe sogar ein wenig wie Pioniere der Apokalypse, denen die Ehre zugefallen war, ihren Beginn zu erleben. Dem Ereignis entsprechend waren wir voller Angst, Verwirrung und Trauer. Für mich persönlich war der Höhepunkt des emotionalen Stresses das Gerücht (von denen damals so viele kursierten), es werde an einem Plan zur Umsiedlung sämtlicher zehn Millionen Einwohner von Belarus nach Sibirien gearbeitet. Damals begriff ich zum ersten Mal, wie sehr ich dieses mein Land liebe – und musste weinen.

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Valentin Akudowitsch


Foto © Andrei Liankewitsch

 

 

Strahlende Südsee –

Atombomben «zum Wohle der Menschheit»

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Am 10. Februar 1946 reiste der amerikanische Militärgouverneur der Marshallinseln persönlich auf das Bikiniatoll, den Ort der zukünftigen Atombombentests. Es war ein Sonntag und die Bewohner verliessen gerade die Kirche. Im Beisein eines Kamerateams informierte er die Bevölkerung, sie müssten ihre Insel für einige Zeit verlassen. «For the good of mankind and to end all world wars.» Zum Wohle der Menschheit und zum Beenden aller Weltkriege. Er verglich die Bevölkerung Bikinis mit den Kindern Israels, die vom Herrn vor ihren Feinden gerettet worden waren und die er ins gelobte Land geführt hatte. King Juda, der Anführer der Bikini-Leute antwortete: «We will go believing that everything is in the hands of God.» Wir glauben, alles liegt in Gottes Händen. Diese Szene musste mehrmals wiederholt werden, bis die Medienleute zufrieden waren. Denn es war eine Weltsensation, dass 166 Menschen ihre Schlafmatten zusammenrollten, ihren Hausrat einpackten, Schweine und Hühner mitnahmen, um auf ein Nachbaratoll zu übersiedeln.

Fünf Monate später wurde Bikini von den ersten Atombombenversuchen erschüttert.
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Carmen C.H. Petrosian-Husa

Foto © Andrei Liankewitsch

 

Fukushima 3 / 11

«Ich werde meine Kinder nicht wiedersehen können!»

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Nach der Erdbeben- und Atomkatastrophe vom März 2011 wurde der Grenzwert für die zulässige Strahlenbelastung nach und nach heraufgesetzt. Inzwischen gilt für Erwachsene und Kinder derselbe Wert. Das Ministerium für Bildung, Kultur, Sport, Wissenschaft und Technik (MEXT) hat beispielsweise den Strahlengrenzwert für Schulkinder in Fukushima von einem auf 20 Millisievert pro Jahr heraufgesetzt. Auch wenn die Regierung zunächst versprochen hatte, den Grenzwert wieder nach unten zu korrigieren, ist sie ihrem Versprechen bislang nicht nachgekommen.   Der Grenzwert für Jod-131 lag für Kinder bei 100, für Erwachsene bei 300 Becquerel pro Liter Da die Regierung den Wert für Kinder ebenfalls auf 300 Becquerel erhöht hat, bedeutet dies eine Steigerung um das dreissigfache.
Nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl sind Kinder aus der Region aussergewöhnlich häufig an Schilddrüsenkrebs erkrankt. An einigen Schulen in der Region Fukushima wird der heraufgesetzte Grenzwert von 20 Millisievert pro Jahr sogar noch übertroffen. Ist das wirklich verantwortbar, da ja Kinder extrem sensibel auf Strahlung reagieren?
(...)
Einwohner von Fukushima, bitte evakuiert euch aus der Region, wenn es euch möglich ist. Für die schrecklichen Bedingungen dort gibt es weltweit kein zweites Beispiel. Tagtäglich fällt Radioaktivität vom Himmel herab und strömt aufs Meer hinaus.

Dort zu leben heisst, auf den Krebs zu warten.
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Es wurde angekündigt, die Regierung werde die Lage bis Januar 2012 wieder im Griff haben. Aber das sind nur leere Worte der Beschwichtigung. Die Regierung hat keinen Plan. Jeden Tag, auch jetzt in diesem Moment, werden Luft und Meer radioaktiv verstrahlt.
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Yumi Kikuchi

 

 

Autorinnen und Autoren

Vladimir Akudovitsch
(* 1950). Belarussischer Philosoph, Poet und Literaturkritiker. Gilt als führende Stimme des intellektuellen Belarus. Als stellvertretender Chefredaktor ist er für die Zeitschrift «Fragmenty» tätig, als Redaktor für «Kultura»,«Perekrestki» und «Krynica». Akudovich arbeitete als Schreiner, Schlosser, Ingenieur, Tourismusführer, Wächter, Schiffbauer, Dozent an Fachhochschulen und Universitäten. Vladimir Akudovitsch lebt in Minsk. val_akud (at) tut.by

Susan Boos
(* 1963) Redaktionsleiterin der Wochenzeitung WOZ. Sie gehört zu den profiliertesten und engagiertesten KennerInnen der Schweizer Atom-Szene sowie der Atom- und Energiepolitik. 2010 wurde sie zur «Chefredaktorin des Jahres» erkoren. Autorin der Bücher «Strahlende Schweiz. Handbuch zur Atomwirtschaft» (Rotpunktverlag, Zürich, 1999), «Beherrschtes Entsetzen – Die Ukraine zehn Jahre nach Tschernobyl» (Reihe WoZ im Rotpunktverlag, Zürich, 1996). sboos (at) woz.ch

Anja Boromandi
(*1971) freie Journalistin, München, arbeitete anderthalb Jahre in New York als freie Journalistin , 2003 - 2005 TV-Redakteurin bei der ARD Talkshow „Fliege“; 2007 - 2009 verantwortlich für den Reiseteil der «Münchner Abendzeitung». Heute schreibt sie Portraits mit dem Schwerpunkt Religion für deutsche und schweizerische Printmedien. www.boromandi.de
 
Alain de Halleux
(*1957). Dokumentar- und Spielfilmautor, Kriegsfotograf (Afghanistan 1981, Libanon 1982), diplomierter Nuklearchemiker. Dokumentarfilme für arte: «Nucleaire rien à signaler» (2009) und «Chernobyl 4ever» (2011). 22 Kurzfilme für www.antoinecitoyen.eu, einer Website rund um nukleare Themen. Seit 2006 befasst er sich ausschliesslich mit Atom-Themen. Alain de Halleux, ausgebildet in der japanischen Kampfsportart Aikido, lebt und arbeitet in Brüssel. indien (at) ibbbs.be
 
Peter Jaeggi
(*1946). Initiant, Herausgeber und Mitautor dieses Buches. Freischaffender Autor und Fotograf. Über hundert grosse Rundfunkfeatures u.a. für Schweizer Radio DRS1+2, SWR2, ORF2 hauptsächlich zu naturwissenschaftlichen und sozialen Themen. Verfasste zahlreiche Bücher, darunter zu den Spätfolgen von Tschernobyl und den Agent Orange-Einsatz im Vietnamkrieg. Für seine Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem bedeutendsten Schweizer Rundfunkpreis (Zürcher Radio- und Fernsehpreis). Lebt in der Schweiz. www.peterjaeggi.ch

Yumi Kikuchi
(* 1962). Japanische Journalistin und Umweltaktivistin. Sie schreibt für japanische und amerikanische Printmedien über Umwelt-Themen. Nach Fukushima half sie bei der Evakuierung von Kindern und schwangeren Müttern. Mitbegründerin verschiedener Umweltorganisationen, unter anderem von «Connecting Light» (Hilfe für die Erdbebenopfer in Japan). Derzeit am Aufbau eines Ökodorfes auf Hawaii engagiert. Sie lebt in Chiba bei Tokio. http://tsunaguhikari.weebly.com/
 
Anna Kowalski
Arbeitet als freischaffende Journalistin in einer verstrahlten Region der Republik Belarus. Anna Kowalski ist ein Pseudonym, das sie zu ihrem Schutz selber gewählt hat. In Belarus muss mit Repressionen rechnen, wer seine Meinung öffentlich macht.

 

Andrei Liankewitsch

(* 1981) Belarussischer Fotograf. Lehrt Fotojournalismus an der European Humanity University in Vilnius. 2005 - 2010 Mitarbeiter der European Press Photo Agency (EPA). Seit 2007 vertritt ihn die Anzenberger Agentur. Arbeiten erschienen u.a. hier: The New York Times, Le Figaro, Newsweek, Die Zeit, Spiegel, GEO, Vanity Fair, International Herald Tribune. Bisher über 60 Ausstellungen in Europa, Asien und in den USA. Gewinnner zahlreicher nationaler und internationaler Auszeichnungen. Die Fotos, die er für dieses Buch realisierte, wurden mit dem «Belarus Press Photo Award 2011»ausgezeichnet. Andrei Liankewitsch lebt in Minsk. www.liankevich.com

Christoph Müller
(*1950). Chefreporter und Leiter und Autor der Sendung «Reporter», Redaktionsleiter «DOK» und «Horizonte» beim Schweizer Fernsehen SF. Als Russland-Korrespondent des SF begleitete er die bewegten Jahre während und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Gestalter zahlreicher Dokumentarfilme. Bei vielen seiner Arbeiten ist er sein eigener Kameramann. Christoph.Mueller (at) srf.ch

Carmen C.H. Petrosian-Husa
(* 1954). Die Wiener Anthropologin lebte 15 Jahre in Mikronesien. 2003 bis 2006 forschte sie auf den Marshallinseln für das Alele-Museum, dem Nationalmuseum der Marshallinseln, und für das «Historic Preservation Program» der Republik Marshallinseln. In dieser Zeit repräsentierte sie die Marshallinseln bei der UNESCO World Heritage und initiierte die Nominierung des Bikiniatolls als UNESCO-Weltkulturerbe. cchph2000 (at) yahoo.com

Natalia Vukolova
(*1960 in Moskau) Geschichtsstudium an der Moskauer Lomonossow-Universität. Arbeitete u.a. in der Nachrichtenagentur RIA Nowosti in Moskau. Seit 1990 für deutschsprachige TV-Sender tätig. 1991 bis 1994 für das Schweizer Fernsehens im Studio Moskau. Als Dolmetscherin und Producerin bereiste sie fast alle Republiken der ehemaligen UdSSR. Natalia Vukolova lebt in Frankfurt a.M. natalia.vukolova (at) gmx.de

 

 

Danke

Diese Institutionen haben das Projekt unterstützt:

 

Alfred Richterich Stiftung

Green Cross Schweiz

Greenpeace Schweiz

Hamasil Stifung

Krebsligs Schweiz

Migros Kulturprozent

PSR / IPPWN Schweiz

Schweizerische Energiestiftung SES

Schweizerisches Rotes Kreuz

SO-Kultur

Swisslos Kanton Aargau

Swisslos- Fonds Kanton Basel-Stadt

Autorenporträt. Solothurner Zeitung 12.12.2023
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Agent-Orange-Publikationen     von Peter Jaeggi 2000 bis 2022

Agent-Orange-Werke Peter Jaeggi.pdf
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Bild in den Weltraum geschossen

Zusammen mit Roland Schmid und Magnum-Fotografen realisierte ich im Jahr 2000 das Buch sowie internationale Ausstellungen mit dem Titel «Als mein Kind geboren wurde, war ich sehr traurig». Eine Dokumentation über die Spätfolgen des Chemiewaffeneinsatzes im Vietnamkrieg, erschienen bei Lenos.

 

Eines von Roland Schmids Bildern, das im Buch publiziert ist (siehe oben), wurde zusammen mit 99 andern Fotografien am 20. November 2012 an Bord des Kommunikations-Satelliten EchoStar XVI in den Weltraum geschossen. Dies im Rahmen eines Projektes des amerikanischen Künstlers und Geografen Trevor Paglen. Auf einer speziell beschichteten CD mit dem Titel «The Last pictures» steht unser Bild nun für eine Ewigkeit in rund 35 000 Kilometern Höhe geostationär im Weltall.

 

Mehr zum Projekt hier.

Der EchoStar XVI

Sesseli hören

«Man denkt,

ein Kind kann

nicht sterben»

Wenn ein Familienmitglied von einer schweren Krankheit heimgesucht wird, dann trifft es die ganze Familie. Vor allem Kinder müssen mit schwierigen Gefühlen zurechtkommen. «Man denkt, ein Kind kann nicht sterben», sagt zum Beispiel Bettina, die eine Schwester an Leukämie verloren hat. In dieser Sendung von Peter Jaeggi erzählen Kinder und Erwachsene, wie sie die Krebserkrankung eines Elternteils oder von Geschwistern erleben oder erlebt haben. Was besonders schwer war, was ihnen dabei geholfen hat und was sie an Erfahrungen mitnehmen.

 

Schweizer Radio DRS

 

Hier hören 

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Zu diesem PDF: 

Wie gesunde Kinder die Krebserkrankung von Eltern und Geschwistern erleben.

Ein Gespräch

über schwierige Wege

und was unterwegs helfen könnte

Interviewpartner(in): Dr. Andrea Grether, Kinder- und Jugendpsychiaterin mit eigener Praxis in Basel. Dr. Alain Di Gallo, Kinder- und Jugendpsychiater, Chefarzt des Kinder- und Jugend-psychiatrischen Dienstes Baselland.